Raus bist du – Denkanstoß zum Thema „Konnektivität und Inklusion“ von Heribert Prantl

Lesenswerter Beitrag aus der Süddeutschen Zeitung vom 06/07. Mai 2023

Raus bist du

Man muss Smartphones nutzen, um den Alltag gut bewältigen zu können.

Doch es gibt auch ein Recht auf ein analoges Leben

Von Heribert Prantl

Aus einem Kinderreim wird ein gesellschaftliches Prinzip. Der Kinderreim lautet: „Ene mene muh, und raus bist du.“ Das geht in digitalen Zeiten sehr schnell: Wer kein Smartphone hat oder es nicht einigermaßen behände bedienen kann; wer keinen Zugang zum Internet hat, oder keinen haben will; wer nicht weiß, was eine Bluetooth-Verbindung ist, oder wer sich schwer damit tut, eine herzustellen – der gerät ziemlich schnell an den Rand der Gesellschaft, der ist von einem Teil des öffentlichen Lebens ausgeschlossen, der tut sich immer schwerer, auch nur ein Bahnticket zu kaufen oder seine Bankgeschäfte zu erledigen. Es gibt eine Diskriminierung der Handylosen, die um sich greift, über die aber zu wenig geklagt wird, weil viele der davon Betroffenen sich genieren.

Anträge bei Behörden können immer öfter nur noch online gestellt werden. Immer mehr Dienstleistungen und Terminbuchungen werden nur noch online angeboten, viele Banken nehmen Papierüberweisungen nur noch gegen eine Extragebühr an. Analoge Angebote sind teurer als digitale Angebote. Eintrittskarten für manche Museen oder fürs Schwimmbad können bisweilen vor Ort nur noch gegen Aufschlag gekauft werden. Und: In den drei Corona-Jahren war das Leben ohne Internet noch schwerer als ohnehin schon: Da war der digitale Zugang zur Impfung der einzige Zugang, der einigermaßen funktioniert hat; das Handy und die Luca-App waren Lizenz und Passierschein zu den noch verbliebenen Resten des öffentlichen Lebens.

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, aber die mit den Digitalgeräten sind gleicher. Es war und ist mittlerweile fast so, als stünden die Grundrechte unter Smartphone-Vorbehalt: Jeder hat das Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit und auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit – so er ein Digitalgerät hat und nutzt. Ansonsten: Raus bist du. Dieser Ene-mene-Kinderreim hat freilich noch eine zweite Zeile, mit der das „Raus bist du“ ein wenig hinausgezögert und weitergegeben wird. Diese Zeile heißt: „Raus bist du noch lange nicht, sag mir erst, wie alt du bist“; dann wird mit der genannten Zahl weiter ausgezählt. Es ist Zufall, wen es trifft. Im realen Alltag der digitalen Welt ist das aber kein Zufall: Die digitale Ausgrenzung trifft vor allem ältere und alte Menschen.

Mehr als die Hälfte der über 65-Jährigen nutzt kein Smartphone, bei den über 80-Jährigen haben zwei Drittel keinen Zugang zum Netz. Sie fühlen sich von den neuen Techniken überfordert; nicht wenige sind eigentlich interessiert, hatten aber keine Gelegenheit, die digitale Welt zu erlernen. Sie fühlen sich analphabetisiert. Es ergeht ihnen in der digitalen Gesellschaft wie ihrem Vierbeiner vor der Metzgerei. Dort hängt das Schild: „Wir müssen draußen bleiben.“ Digitalfreaks wiegeln ab und weisen darauf hin, dass „dieses Problem“ in zehn oder fünfzehn Jahren ausgestorben sein wird. Wer so redet, verhöhnt die Alten. Wo bleibt da die Fürsorge, die in der Corona-Zeit die Begründung für massiv einschränkende Maßnahmen war? Smartphone und Tablet sind wunderbare Geräte – zum Kommunizieren, zum Fotografieren, zum Navigieren, zum Registrieren, zum Archivieren. Aber dürfen Staat und Gesellschaft sie zur Zwangsbeglückung mit dem Kollateralnutzen Personalabbau und dem Kollateralschaden Ausgrenzung verwenden?

Spanier begehren auf unter dem Motto: „Ich bin zwar alt, aber kein Idiot.“

In Spanien hat ein 78-jähriger Mann, Carlos San Juan aus Valencia, mit einer Unterschriftenaktion gegen den Digitalzwang Wirtschaft und Politik aufgescheucht. Er sammelte mehr als sechshunderttausend Unterschriften für seine Petition, die den Namen „Soy mayor, no idiota“ trug, auf Deutsch: „Ich bin zwar alt, aber kein Idiot“. Er wollte die Banken verpflichten, wieder analoge Angebote zu machen und das klassische Sparbuch beizubehalten; er hatte Erfolg damit. In Deutschland hat der Verein Digitalcourage in Bielefeld, geleitet von der Internet-Pionierin und Künstlerin Rena Tangens, eine Sammelstelle für Digitalzwang eingerichtet, einen „Digitalzwangsmelder“. Begründung: Wenn Menschen kaum mehr eine Wahl bleibt, ob sie ein digitales Angebot nutzen wollen oder nicht, dann sei das ein Problem. Der Verein nennt Beispiele: Schulinformationen, die nur noch über Whatsapp-Gruppen verbreitet werden; Haushaltsgeräte, die ausschließlich mit einer aktiven Internetverbindung funktionieren. Als Digitalzwang darf man es auch bewerten, wenn die analogen Alternativen zum digitalen Prozedere äußerst umständlich und äußerst zeitraubend sind.

Der Verein Digitalcourage ist sehr technikaffin; er wehrt sich aber dagegen, dass „die Demokratie verdatet wird“; das gute digitale Leben schließe die Wahlfreiheit und das Analoge mit ein. Alljährlich vergibt er die „Big Brother Awards“; das sind Negativ-Auszeichnungen für die „Datenkraken“ in Wirtschaft und Politik. Einen dieser Pranger-Preise erhielt soeben die Deutsche Post/DHL dafür, wie sie ihre Packstationen digital umrüstet. Man kann also dort nicht einfach unter Vorlage des Personalausweises sein Paket in Empfang nehmen. Man braucht dazu nun ein Smartphone, auf dem man die einschlägige App installiert hat, also die Post & DHL App. Wer kein Smartphone hat, der schaut mit Ofenrohr ins Gebirge – der kriegt also sein Paket nicht. Die Bluetooth-Verbindung wird im Übrigen dann, wenn man sie als Smartphone-Nutzer denn hergestellt hat, von der Post ungefragt dafür genutzt, Daten an Tracking-Firmen zu übersenden. So beklagt es Digitalcourage.

Inklusion klingt gut – muss aber auch für Menschen ohne Handy gelten

Es ist dies ein weiteres Beispiel für die exzessive Selbstverständlichkeit, mit der das Bedürfnis, ein analoges Leben zu führen, missachtet wird. In einer Gesellschaft, die sehr zu Recht viel von nötiger Barrierefreiheit und Inklusion redet, wird die digitale Exklusion einer Offline-Minderheit offensichtlich von der Mehrheit einfach akzeptiert. Es geht aber auch hier um das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe. Offliner dürfen nicht behindert werden, jedenfalls dann nicht, wenn es um ihre Grundbedürfnisse geht. Barrierefreiheit ist ein Menschenrecht; dieses gilt auch dann, wenn die Barrieren digitaler Natur sind.

Wie räumt man Barrieren weg? Menschen müssen die Wahl haben, ob sie Apps und digitale Angebote nutzen oder nicht; daran kann und darf es jedenfalls dann keinen Zweifel geben, wenn es um die Grund- und Daseinsvorsorge geht, zu deren Aufrechterhaltung der Staat verpflichtet ist. Die Gesellschaft braucht Wahlfreiheit zwischen digital und analog. Es muss ein Recht auf ein analoges Leben geben; es muss ausdrücklich und eindringlich formuliert werden – als Grundrecht. Es ist dies praktizierter Minderheitenschutz. Und es ist dies ein sehr praktisches Geschenk zum 75.  Jubiläum des Grundgesetzes.